Führung und Angst

Führungskräfte kennen keine Angst. Wer das glaubt, glaubt auch das Weihnachtsmann und Osterhase in derselben Siedlung wohnen. Die Frage ist doch schon lange nicht mehr ob Führungskräfte Angst haben, sondern vielmehr wie sie damit zurecht kommen ohne Schaden für sich, ihre Familien, Freunde und Mitarbeiter.

Die Betriebsversammlung wird zu einer einzigen Beschimpfungarie, Inhalte vertraulicher Gespräche werden den Medien durchgestochen, in Vorstandsitzungen werden unangekündigt Themen und Zeiten geändert. Das und vieles mehr ist im Haifischbecken der Führungsarbeit weder undenkbar noch tagtäglich anzutreffen. Und doch findet es statt und gehört zum Job im Management. Mal mehr, mal weniger. Wenig erstaunlich, einige Führungskräfte kommen damit gut zurecht, d.h. sie haben keine Angst vor derartigen Situationen, während andere dadurch in Angst und Schrecken versetzt werden. Sie reagieren mit starkem Schwitzen, spüren Herzrasen und Atemnot. Symptome die in ihrer extremsten Ausprägung auch bei Panikattacken auftreten. Woran liegt das?

Jerome Kagan, amerikanischer Entwicklungspsychologe hat rund tausend Kinder vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter beobachtet. Dabei stellte er fest, dass ängstliche Kinder auch als Erwachsene ängstlich blieben. Jedes fünfte Baby der untersuchten Gruppe reagierte auf fremde Personen mit Zappeln und Weinen und zeigte sich auch später anfällig für Zumutungen jeder Art. Die andere Hälfte der Kinder verhielt sich genau entgegengesetzt. War nur schwer aus der Ruhe zu bringen und entwickelte ein ausgesprochenes Draufgängertum.

Es läßt sich denken, das weder das eine noch das andere Verhalten allein glücklich machend ist. Wer ängstlich ist lebt meist länger, wer sich in jede Brandung des Lebens wirft erlebt meist mehr, aber nicht unbedingt lange. Lee Dugatin, amerikanischer Biologe präparierte ein Fischbecken indem er es mit einer Glasscheibe teilte. Auf die eine Seite setzte er einen Schwarm niedlicher kleiner Guppys, auf die andere Seite einen hungrigen Wolfsbarsch. Dieser, ein großer Freund der Guppys würde eine Menge dafür geben, einmal auf die andere Seite zu gelangen. Während einige Guppys beim Anblick des Wolfsbarsches, obwohl durch die Glasscheibe getrennt, sofort die Flucht ergriffen und sich im Gestrüpp der Wasserpflanzen verbargen, schwammen andere neugierig an die Scheibe um den Freund aller Guppys gebührend zu bewundern. Eines Morgens nahm der Forscher die Glasscheibe heraus und zwei Tage später war von den neugierigen Guppys keiner mehr vorhanden.

Angstfreie Menschen gibt es nicht, wenn wir von den wenigen am Urbach-Wiethe-Syndrom Erkrankten einmal absehen. Durch Mutation ihres Erbgutes sind sie nahezu Angstfrei. Für alle anderen von uns gilt den Mittelweg zu finden zwischen standhalten, also kämpfen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, also fliehen. Das ist eine wertvolle Strategie des Überlebens die nicht nur auf Menschen zutrifft, sondern auf alles Leben. Dieser Mittelweg setzt voraus, dass wir uns mit den vorhanden Möglichkeiten auseinander setzen. Im Sinne der Frage, was macht unter diesen Bedingungen Sinn, was ist Unsinn, was sollte ich machen, was bleiben lassen.

Egal ob wir zu den ängstlichen Menschen oder den weniger ängstlichen zählen, entscheidend ist der Grad an Selbstbestimmung. Je mehr wir davon überzeugt sind, dass Heft des Handeln in der Hand zu haben, desto weniger ängstlich werden wir reagieren. Und das Heft kann uns niemand aus der Hand nehmen. Wenn wir eine Betriebsversammlung absagen oder eine Vorstandssitzung wegen Regelverstößen “aufmischen” können wir es tun. Allerdings sollten wir verstehen, dass alles seinen Preis hat und wir gegebenenfalls Konsequenzen (Rücktritt, Klage etc.) folgen lassen und aushalten müssen. Trotz Angst.